MONIKA BRANDSTÄTTER

Dissertation (2014): Lebenssinn bei Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörigen in Palliative Care. Dissertation, LMU München: Medizinische Fakultät

HINTERGRUND

Lebenssinn wird als kognitiv-motivational-emotionales System beschrieben, das eine Person hinsichtlich ihrer Ziele und Aktivitäten beeinflusst, und das Erleben von Zielgerichtetheit, persönlichem Wert und Erfüllung vermittelt. Obwohl Lebenssinn als hochindividuell verstanden wird, ist er im sozio-kulturellen Kontext verankert. Insbesondere in Krisen stellt Lebenssinn-Erfahrung eine wichtige Ressource dar. Im Kontext Palliative Care gehören spirituelle und existenzielle Themen mit zum Behandlungsauftrag zur Sicherstellung der bestmöglichen Lebensqualität von betroffenen PatientInnen und deren Angehörigen. Insgesamt hat die empirische Lebenssinnforschung seit den 1960-er Jahren eine rasante Entwicklung erfahren, so dass aktuell eine Vielzahl von unterschiedlichen Messverfahren vorliegt. Eine Integration der vorgeschlagenen Konzepte und empirischen Herangehensweisen fehlt weitgehend. Befunde zu Lebenssinn in Psychoonkologie und Palliative Care – sei es bei PatientInnen oder Angehörigen – liegen großteils zu Sinn(-findung) in Krankheit (meaning-making) und vereinzelt zu generellem Sinnempfinden vor. Lebenssinn kann eine Ressource darstellen, die lebensbedrohlich Erkrankte sowie deren Angehörige im Umgang mit der Erkrankung und der Pflegebelastung bzw. dem Verlust eines nahestehenden Menschen unterstützt. Daten zu individuellem Lebenssinn (idiographische Erfassung von relevanten Sinnquellen, verbunden mit quantitativen Einschätzungen zum erlebten Sinn) bei PalliativpatientInnen und Angehörigen, auch im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung, fehlen bisher.

ZIELE

In einem ersten Schritt soll ein systematischer Literaturüberblick zu verfügbaren (quantitativen) Erhebungsinstrumenten erörtern, wie das Konstrukt Lebenssinn in der aktuellen medizinischen und psychologischen Forschung konzipiert wird, und durch die systematische Darstellung der Instrumente sowie Beurteilung derselben anhand ausgewählter Testgütekriterien die Auswahl geeigneter Verfahren in künftiger Forschung erleichtern. Im weiteren wird der mittels des idiographischen Verfahrens Schedule for Meaning in Life Evaluation (SMiLE) erhobene individuelle Lebenssinn einer PatientInnen- sowie einer Angehörigenstichprobe in Palliative Care beschrieben und mit einer repräsentativen Vergleichsgruppe der deutschen Allgemeinbevölkerung verglichen. Dabei werden die Aspekte Sinnerfüllung und Sinnrahmen (Sinnquellen, Wichtigkeit einzelner Bereiche) berücksichtigt.

METHODE

Publikation 1: Vier Datenbanken (Psycinfo, Medline, Embase und Cinahl) wurden systematisch per elektronischer Suche nach Publikationen in englischen, peer-review Zeitschriften durchsucht, die Lebenssinn erfasst haben. Identifizierte Instrumente wurden systematisch dargestellt und anhand von zehn Testgütekriterien beurteilt. Publikation 2 und 3: Daten zum individuellen Lebenssinn (erhoben mit dem SMiLE) von 100 PalliativpatientInnen sowie von 84 trauernden Angehörigen von palliativ Erkrankten werden getrennt mit einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe verglichen. Im SMiLE geben die Befragten in ihren eigenen Worten bis zu sieben Bereiche an, die für ihr persönliches Sinnerleben relevant sind, und schätzen dann die aktuelle Wichtigkeit dieser Bereiche sowie ihre Zufriedenheit ein. Daraus resultieren drei Gesamt-Indices: Der Wichtigkeitsindex (IoW, Range 0-100), der Zufriedenheitsindex (IoS, Range 0-100), und der SMiLE Index (IoWS, Range 0-100), der die gewichtete Gesamtzufriedenheit wiedergibt. Der individuelle Lebenssinn der trauernden Angehörigen (SMiLE Index) wird zudem mit Outcomemaßen (Symptombelastung, Lebensqualität) in Beziehung gesetzt.

ERGEBNISSE

Publikation 1: 59 Lebenssinninstrumente wurden eingeschlossen. Die Mehrzahl wurde in Nordamerika entwickelt und erfüllt grundlegende psychometrische Anforderungen. Erfasste Sinnaspekte beinhalten Sinnerfüllung, Sinnsuche, Sinnkrise, Sinnquellen, Sinnfindung, sinnvolle Aktivität, Sinn in Krankheit, Sinnbreite, -tiefe, und weitere strukturelle Indikatoren. Die gefundenen Aspekte sind großteils konsisent mit geläufigen Lebenssinndefinitionen. Neun der 59 Instrumente wurden anhand von Stichproben mit KrebspatientInnen entwickelt. Elf idiographische Instrumente erfassen auch individuelle Aspekte von Lebenssinn, während die 48 nomothetischen Instrumente ausschließlich vorformulierte Items beinhalten. 25 weitere Instrumente erheben Lebenssinn mit einer Subskala. Publikation 2 und 3 zusammenfassend: Die 100 PalliativpatientInnen hatten signifikant niedrigere Werte hinsichtlich IoS (70.2±19.7) und IoWS (72.0±19.4) als die Repräsentativstichprobe (N=977; IoS 82.8±14.7, IoWS 83.3±14.8), aber vergleichbare IoW Werte (PatientInnen: 84.7±11.5; Repräsentativ: 85.6±12.3). Im Unterschied dazu waren bei der Gruppe der trauernden Angehörigen (Zeit seit dem Verlust 0 bis 6 Monate) alle drei Indices deutlich und signifikant niedriger als in der Vergleichsstichprobe (N=84; IoS 68.3±19.1, IoW 76.6±13.6, IoWS 68.5±19.2). Im Vergleich zur Repräsentativstichprobe, wurden von den PalliativpatientInnen die Bereiche Partnerschaft, Freunde, Freizeit, Spiritualität, Wohlbefinden, Natur/Tiere, und Hedonismus häufiger genannt. PatientInnen wiesen mit der Allgemeinbevölkerung vergleichbare Zufriedenheit in den Bereichen Familie, Partnerschaft, Haus/Garten, Spiritualität, Wohlbefinden und Finanzen auf, waren jedoch weniger zufrieden mit den Bereichen Natur/Tiere, Freizeit, Freunde, Arbeit, Hedonismus und Gesundheit. Trauernde Angehörige nannten häufiger die Bereiche Freunde, Freizeit, Natur/Tiere und Altruismus als relevant für ihren Lebenssinn als die Allgemeinbevölkerung. In sechs von 13 Bereichen war ihre Zufriedenheit signifikant geringer, in vier weiteren Bereichen tendenziell niedriger als bei der Vergleichsgruppe. Höheres Sinnempfinden bei den Angehörigen ging mit mehr Lebenszufriedenheit und Lebensqualität einher.

DISKUSSION

Die in der Literatur verwendeten Messverfahren erfassen mehrere unterschiedliche Aspekte von Lebenssinn und unterstreichen die Komplexität dieses Konstruktes. Die systematische Darstellung der Verfahren kann ForscherInnen helfen, ein adäquates Verfahren für ihre Forschungszwecke auszuwählen. Es gibt weiterführenden Bedarf an integrativen Lebenssinntheorien und entsprechenden empirischen Zugängen. Weiterführende Analysen und Empfehlungen zur Eignung einzelner Sinninstrumente für bestimmte Forschungssituationen wären hilfreich. Die SMiLE Ergebnisse deuten darauf hin, dass sowohl PalliativpatientInnen als auch trauernde Angehörige eine deutliche Verringerung der erlebten Zufriedenheit hinsichtlich ihres Lebenssinns erfahren (Sinnerfüllung). Angehörige erfahren offensichtlich zusätzlich eine Verunsicherung dahingehend, was für ihren Sinn wichtig ist (Sinnrahmen). Während es PalliativpatientInnen gelingt, in einigen Bereichen (z.B. Partner, Familie, Spiritualität) ihr positives Sinnerleben aufrecht zu erhalten, scheint dies für Angehörige in der Trauersituation nicht möglich. Für PatientInnen verweisen die Ergebnisse auf mögliche Ansatzpunkte zur Verbesserung der Lebensqualität einerseits auf den Ausbau der Bereiche, die PatientInnen scheinbar gut nutzen können (z.B. Familie, Spiritualität), andererseits könnte ein Schwerpunkt auf die Ermöglichung von Sinnerleben in Bereichen mit geringerer Zufriedenheit, wie z.B. Natur/Tiere oder auch Hedonismus gelegt werden. Für Trauernde sind die Bereiche Familie, Partnerschaft, Altruismus und Gesundheit besonders wichtig. Alle Bereiche, die von 15% oder mehr der Trauernden genannt wurden, werden als aktuell deutlich weniger sinnstiftend wahrgenommen. Da dies viele zentrale Lebensbereiche der Trauernden betrifft (u.a. Arbeit, Familie, Freunde, Freizeit), scheinen positive Ressourcen in dieser Zeit nicht ausreichend zur Verfügung zu stehen oder nur begrenzt nutzbar zu sein. Bei Trauernden ist Spiritualität der Bereich mit der höchsten mittleren Zufriedenheit, es wird allerdings nur von 19% genannt (immerhin mehr als doppelt so häufig wie in der allgemeinen Bevölkerung mit 7%). Der SMiLE kann das Palliative Care Team in der Allokation der oft knappen therapeutischen Ressourcen unterstützen, indem sowohl bei den PatientInnen als auch bei den Angehörigen die relevanten und besonders bedrohten Sinnbereiche rasch identifiziert und entsprechende Interventionen darauf ausgerichtet werden können. Da Lebenssinn bei trauernden Angehörigen mit Symptombelastung und allgemeinen Wohlbefindensmaßen zusammenhängt, ist eine frühzeitige Unterstützung in diesem Bereich zur Wiedererlangung eines erfüllenden Sinnempfindens besonders wichtig. Die Entwicklung und Implementation von bisher nur begrenzt vorliegenden Interventionen für Angehörige ist dahingehend wichtig.

QUELLE

Entnommen aus o.g. Dissertation.

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